Deutschlands größte Senfgas-Fabrik

Orgacid und das Nazi-Gift von Ammendorf

Text: Martin Schramme, letzte Aktualisierung: 14.10.2018

Luftbild Goldschmidt Chemiewerk Ammendorf bei Halle Saale Ammendorf, 1950 nach Halle Saale (Sachsen-Anhalt) eingemeindet, hat ein giftiges Geheimnis. Lost! Der chemische Kampfstoff, der Blasen an Gliedmaßen sowie inneren Organen hervorruft und langsam tödlich wirkt, wurde während des Dritten Reiches im Industriegebiet unweit der Weißen Elster produziert. Unter dem Tarnnamen Orgacid war Ammendorf anfangs sogar führend bei der Lost-Herstellung im nationalsozialistischen Deutschen Reich und einziger ernsthafter und mit allen Mitteln bekämpfter Gegner des Chemie-Giganten und Kampfstoffherstellers IG-Farben. Auch wenn die Reste der Höllenfabrik weitgehend unter Gras und Bäumen begroben ist, will über das dunkle Kapitel und seine Folgen kein Gras wachsen.

Noch 2001 wurde das kontaminierte Gelände - wenn auch inzwischen routinemäßig - überwacht. In einem nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 vorübergehend geöffneten Bunker, in dem einst Lost-Vorräte lagerten, und in dem ihn umgebenden Boden gibt es noch immer übel riechende Kampfstoffreste, überwiegend Zersetzungsprodukte, die in ihrer Konzentration heute aber offiziell als unbedenklich gelten. Nach Probebohrungen, Wasserproben und Luftmessungen bis Mitte der 1990er Jahre hatte die Stadt Halle den Fall offiziell abgeschlossen - Muttererde drauf, Absperrzaun drumherum, Akte zu.

Luftbild Goldschmidt Chemiewerk Ammendorf bei Halle Saale Der wieder versiegelte, innen geflieste, doppelwandige Betonbunker bleibt nicht zuletzt deshalb auf unbestimmte Zeit als ewiges Andenken an die Giftküche der Nazis im Boden, weil eine Sprengung und Beseitigung zu teuer ist, aber auch als zu riskant gilt. Schon die Russen waren daran gescheitert, den gesamten Giftgas-Komplex zu entfernen.

Das gefährliche Erbe hat eine lange Vorgeschichte. 1935 wurde in Ammendorf zunächst Oxol eingelagert, das für die Lost-Herstellung benötigte Vorfabrikat. Absender war die IG Farben, Ludwigshafen. Bereits seit 1925 produzierten die Giftmixer das Oxol, das heute als Furan bekannter ist und auch zu Lösungsmittel für unter anderem PVC, Lacke und Klebstoffe weiterverarbeitet wird. Nun ließ die Reichswehr täglich zwei Tonnen kommen (Vgl. Olaf Groehler: "Der lautlose Tod"). Bereits 1934, genau am 23. November, war die "Orgacid GmbH" ins Handelsregister der damaligen Reichshauptstadt Berlin eingetragen worden. Bis heute ist das geheimnisumwitterte Unternehmen gleichwohl ein Phantom geblieben. Als Giftsumpf, aus dem Dämpfe aufsteigen, welche die Zunge pelzig werden lassen, gelangte Ammendorf am 16. Januar 1995 in die Schlagzeilen des Hamburger Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL. Schon zu NS-Zeiten hatte es Probleme mit Gasen im Zusammenhang mit der Produktion bei der Orgacid gegeben, so dass 1940 ein entsprechendes Gutachten angefertigt wurde. 1991 gab es nach umfangreichen Bodenanalysen wieder Warnungen. Dabei waren Medienberichten zufolge schon in den Jahren 1953, 1954 und 1990 beachtliche Mengen an Giftstoffresten vom Gelände geschafft worden.

Etwas bekannter als die Orgacid GmbH ist die Th. Goldschmidt AG, gegründet 1847 in Berlin, verlagert 1889 nach Essen, weil sie bis 1997 eigenständig war und der Firmenname Goldschmidt bis 2013 existierte. Inzwischen ist der Name komplett unter der Marke des aktuellen Inhabers Evonik verschwunden. Hans und Karl, die Söhne des Firmengründers und Chemikers Dr. Theodor Goldschmidt (bereits vor der Orgacid auch in Halle tätig), waren es schließlich, die mit der der Degussa (heute mit Sitz in Frankfurt/Main) über deren Uraltpartner Auer (Auergesellschaft) und dem Heereswaffenamt die gewinnbringende Giftküche Orgacid 1937/38 mit Standorten in Ammendorf, Trostberg, Hahnenberg und Munster anschoben. In den Jahren 1939 bis 1944 kamen Gendorf, Hörpolding (St. Georgen), Löcknitz, Dessau-Kapen, Lübbecke, Leese, Oerrel und Mockrehna hinzu. Das Startkapital betrug 120.000 Reichsmark. Im Buch "Der lautlose Tod" des DDR-Militärhistorikers Olaf Groehler heißt es dazu: "Nach den Vorstellungen des Heereswaffenamtes sollte die Orgacid die Großproduktion von Lost (Gelbkreuz) in die Wege leiten. Dazu war ein ausgedehntes neues Werk in Ammendorf geplant. Außerdem sollte sie die notwendigen Kampfstofflager der Reichswehr einrichten. Die Kosten wurden vorerst auf 36 Millionen Reichsmark beziffert."

Für die Th. Goldschmidt AG und die Auergesellschaft (1892 als Leuchtmittelhersteller Degea gegr.), die seit 1937 unter Mitwirkung des Heereswaffenamtes (HWA) je 50 Prozent hielten, war die Orgacid GmbH ein äußerst profitables Unternehmen und das, obwohl der Einsatz von Giftgas während des Zweiten Weltkriegs - aus taktischen Überlegungen - marginal blieb. Für die streng vertrauliche Staatsangelegenheit stellte der Staat enorme Mittel zur Verfügung. Immerhin 300.000 Tonnen Giftgase - Phosgen, Lost, Sarin und Tabun (um die bekanntesten zu nennen) - lagerten 1945 im Deutschen Reich und ein Teil davon in den Bunkern auf dem Werksgelände in Ammendorf, wo Loste - darunter Senfgas - hergestellt wurden.

Groehler schreibt über die Bauarbeiten von 1935 bis 1939 in Ammendorf: "Bauschwerpunkt der Orgacid war das neue Kampfstoffwerk in unmittelbarer Nachbarschaft der dem Goldschmidt-Konzern gehörenden Chemischen Fabrik Buckau, einer der ältesten in Deutschland überhaupt, deren Sitz von Buckau nach Ammendorf verlegt worden war." (1921 hatte Goldschmidt - wegen der durch die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verloren gegangenen Auslandsaktivitäten um Akquisition bemüht - die Aktienmehrheit an der Chemischen Fabrik Buckau AG, Magdeburg, mit dem Werk in Ammendorf erworben. Dort wurde vor allem Ätznatron für die Kunstseiden- und Textilindustrie, Ätzkali für die Seifenfabriken und Chlor für die Essener Weißblechentzinnung hergestellt.) Drei Anlagen seien entstanden, eine für das Lost-Vorprodukt Oxol, eine zur Umwandlung des Oxols in Lost und eine weitere zur Herstellung von Stickstoff-Lost, eine kampftechnische Modifizierung des Hautgiftes Lost. Die ersten mit den neuen Anlagen produzierten Tonnen des Kampfstoffes Lost, der nach neueren Überlegungen der Nazis aus Flugzeugen versprüht werden sollte, standen im Mai 1938 zur Verfügung, die ersten Tonnen Stickstoff-Lost im Oktober des selben Jahres. Bereits im März 1936 konnte Ammendorf laut Groehler aus dem damals noch von den IG Farben gelieferten Oxol zwölf Tonnen Lost herstellen.

Weit größere Mengen sollte die Orgacid nach den Vorstellungen der Giftgasbefürworter ausstoßen. Bereits Ende der 30er Jahre war die Rede von 3600 bis 5000 Tonnen Lost im Jahr. Doch das für die Produktion benötigte Chlor konnte nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung gestellt werden. Die Giftgasambitionen des Heereswaffenamtes scheiterten aber auch an der IG Farben, die als Chemiegigant und Monopolist am entscheidenden Hahn der Rohstoffzufuhr saß und nicht daran dachte, ihre eigene Schlüsselposition im profitablen Giftgasgeschäft an die Konkurrenz abzugeben.

1940 beim Bau einer großen Abfüllanlage für Kampfstoffe kamen bei der Orgacid bis zu 500 ausländische Zwangsarbeiter zum Einsatz. Es waren Belgier, Bulgaren, Slowaken, Franzosen, Russen, Spanier, Holländer, Tschechen, Italiener, Türken, Kroaten und Westukrainer. Im Dezember 1942 erhielt die Orgacid für ihre Kriegsproduktion schließlich die Auszeichnung "Musterbetrieb". Am 29. Juli 1944 war nochmal ein großer Aufmarsch von Wehrmacht und NSDAP, denn der Reichsführer der Deutschen Arbeitsfront (DAF), Robert Ley, schaute vorbei.

Foto: Martin Schramme
Seit 1939 war Dr. Eugen Möllney Orgacid-Betriebsdirektor. Er wohnte in der Schachtstraße 11.
Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018 Foto: Martin Schramme, 2018

Im Halleschen Adressbuch von 1942 waren unter Ammendorf folgende Einträge zu finden: Orgacid GmbH und Deutsche Quarzschmelze Gleichmann & Co. (Erdgeschoss), Eisenbahnstraße 9, Th. Goldschmidt AG, elektrochemische Werke, Schachtstraße 11-11g. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Orgacid befanden sich eine Seilfabrik (Eisenbahnstraße 8) und eine Weizenstärkefabrik (7).

Am 13. April 1945 demonstrierten die Westalliierten einmal mehr ihre Luftherrschaft über Halle und das Umland. Um 9 Uhr wurde bei Orgacid die Produktion eingestellt. Schon bald darauf fiel Ammendorf in die Hände der Amerikaner. Die Amis interessierten sich für die deutsche Technik. Die Sowjets auch, als sie im Sommer 1945 das Regime in Ammendorf übernahmen. Im August 1945 unterschrieb Josef Stalin, Staatschef der Sowjetunion, mehrere Verfügungen des Staatlichen Komitees zur Verteidigung, wonach Chemiewaffentechnik in Deutschland demontiert, in die UdSSR geschafft und dort wieder aufgebaut werden sollte. Nach Angaben der Inspektoren der US-Armee befanden sich bei der Übergabe des Werkes an die Sowjetische Militäradministration Deutschlands (SMAD) folgende flüssigen Kampfstoffe auf dem Giftgas-Fabrikgelände: 445 Tonnen Sommer-Lost, 174 Tonnen Winter-Lost und sechs Tonnen Stickstoff-Lost. 1945/46 schaffte die Rote Armee die Giftstoffe vom Gelände, doch das, wie sich später rausstellen sollte, offenbar nicht vollständig. Nach der Demontage brauchbare Anlagen begannen die Russen, die Reste der Giftgasfabrik zu sprengen. Stehen blieb insbesondere das "rote Haus" der Orgacid-Verwaltung. Die Verwaltung der Deutschen Grube, später VEB Braunkohlenwerk Ammendorf, nutzte fortan das Gebäude. Die Kampfstoffe wurden zum Teil im Kraftwerk des Plastwerkes Ammendorf, zum Teil im Chemiewerk Dessau-Kapen verbrannt; zuletzt 1953/54. Die Entgiftung des Bodens war 1958 offiziell abgeschlossen. Seit 1990 wurde jedoch wiederholt nachgearbeitet.

Seit 2005 ist Goldschmidt wieder in Halle-Ammendorf. Das Tochterunternehmen Elektro-Thermit mit der Expertise zum lückenlosen Schienenschweißen und Marktführer auf dem Gebiet ist komplett von Essen nach Halle gezogen. Allerdings ist das Unternehmen dem ehemaligen Gelände der Giftgas-Fabrik ferngeblieben. Dort hatte sich hingegen - Ironie der Geschichte - der Gasanbieter Rheingas Halle-Saalegas GmbH, Nachfolger der PGH Propangas Halle, niedergelassen.

2016 war der Name Orgacid bei einem kanadischen Biofutter-Hersteller Biofeed wieder im Umlauf und bezeichnete einen Futterzusatz für die Landwirtschaft. Auf der Homepage des Unternehmens hieß es, Zitat: "Orgacid contains a premium mix of bioactive organic acids which are concedered as the best alternative to banned antibiotic growth promoters in livestock and poultry. It is ideal to be used in young animals to overcome the pathogenic threats."

Im Sommer 2018 kochte das Thema Giftgas-Fabrik Orgacid wieder hoch. Die Landtagsabgeordneten Andreas Schmidt (SPD) und Thomas Keindorf (CDU) fragten die Landesregierung Sachsen-Anhalt unter anderem nach deren Erkenntnissen über die aktuelle Gefahrenlage, den Eigentümer des Grundstücks und Zukunftsplänen für das Areal an der Camillo-Irmscher-Straße in Halle-Ammendorf. Auch Halles Stadtverwaltung und die hallesche Stadtrat hatte das Thema wieder auf der Agenda. Einmal mehr war von kontaminiertem Grundwasser die Rede. Allerdings sprach zuletzt mehr dafür, dass Chemikalien des ehemaligen VEB Ammendorfer Plastwerke (APW) Probleme bereiten. Schließlich lief von 2011 bis 2015 ein entsprechendes Programm zur Sanierung und Beobachtung des Grundwassers an 35 Messstellen.

Personen
Eugen Möllney (1890-1976), 1937-1941 Gauwirtschaftberater im Gau Halle-Merseburg, ab 1939 Betriebsleiter der Orgacid-Werke, unterhielt gute Kontakte zu Deutsche-Arbeitsfront-Chef Robert Ley, nach 1945 beratender Chemiker in Bonn, Hauptstadt der BRD

Quellen:
Olaf Groehler: "Der lautlose Tod", Berlin 1978
Peter Hayes: "Die Degussa im Dritten Reich: von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft", München 2004
Walter Teltschik: "Geschichte der deutschen Grosschemie: Entwicklung und Einfluss in Staat und Gesellschaft", Weinheim 1992
Günther W. Gellermann: "Der Krieg, der nicht stattfand: Möglichkeiten, Überlegungen und Entscheidungen der deutschen Obersten Führung zur Verwendung chemischer Kampfstoffe im Zweiten Weltkrieg", Bonn 1986
Rolf Petri: "Technologietransfer aus der deutschen Chemieindustrie (1925-1960)", Berlin 2004
Deutscher Bundestag: Drucksache 13/2348 vom 24.10.1995
Besonders heikel - DER SPIEGEL 40/1990
Gras drüber - DER SPIEGEL 3/1995
Judith Hahn, Silvija Kavcic, Christoph Kopke: "Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager: Beiträge eines interdisziplinären Symposiums", Frankfurt am Main 2005

Adressbucheinträge
Hallesches Adressbuch 1941: Orgacid GmbH, Berlin, Eisenbahnstraße 9
Adressbuch der Landeshauptstadt Halle Saale 1950: Braunkohlenverwaltung Merseburg, Vereinigung Volkseigener Betriebe der Kohlenindustrie, Werk Ammendorf, Eisenbahnstraße 10
Branchenfernsprechbuch zum Amtlichen Fernsprechbuch für den Bezirk Halle (Saale) 1959: VEB Braunkohlenwerk Ammendorf, Eisenbahnstraße 10, Förder- und Siebkohle, Braunkohlenbriketts
Fernsprechbuch Bezirk Halle 1990: VEB Braunkohlenwerk Geiseltal, Betriebsteil Ammendorf, Eisenbahnstraße 10
Das blaue Adressbuch der Stadt Halle 1996: Eisenbahnstraße 10, ABS Anhaltinische Braunkohlesanierungs GmbH, CUI Consultinggesellschaft für Umwelt und Infrastruktur mbH, ENSO Entsorgungs- und Containerbau GmbH

Scan einer Werbung des VEB Braunkohlenwerk Ammendorf aus dem Branchenfernsprechbuch des Bezirks Halle Saale von 1959

Links
Orgacid GmbH
schematische Karte des ehemaligen Orgacid-Werksgeländes in Ammendorf
Th. Goldschmidt AG
Auergesellschaft